Der Geheimdiensthacker

Die Mächtigen der Welt waren in Aufruhr. Es gab ein Datenleck, strikt von Geheimdienstinterna von scheinbar zufälligen Ländern. Mittlerweile war schon gut ein Drittel aller Länder betroffen. Eine koordinierte weltweite Ermittlung hätte eigentlich schon lange passieren müssen, doch jeder war verdächtig: Warum waren “Wir treffen uns am Mittwoch für Pizza” die einzigen veröffentlichten Daten des Geheimdiensts von Kleinwenigstan? Hatte es einfach keinen arbeitenden Geheimdienst, oder war der Geheimdienst eigentlich der Hacker, der sich selbst nicht verraten wollte? Schlimmer noch, jede versuchte Ermittlung gegen irgendwen resultierte darin, dass die gesuchte Person entweder gewarnt wurde und untertauchte, oder im Falle eines anderen Geheimdienstes, dass die diplomatischen Beziehungen sich sofort verhärteten. “Freunde ausspionieren – das geht gar nicht”, wie es so schön hieß. Innenpolitisch hieß es dann “Wir müssen die Strafen verhärten” und “Wir brauchen erweiterte Befugnisse für die Polizei.”

Es begab sich zu dieser Zeit, dass ein Hackercongress tagte. Ich war natürlich dabei, schließlich war ich der Grund für das Leiden der Mächtigen. Mein Vortrag, “Das offene Geheimnis”, war genau darüber, doch das stand nirgends. Mir war bewusst, dass ein öffentlicher Vortrag so ziemlich der schnellste Weg war, geschnappt zu werden, doch ich glaubte, mich gut vorbereitet zu haben. Was mein Herzrasen natürlich nicht verminderte, und so kurz vorm Vortrag war zusätzliche Nervosität natürlich auch nicht wirklich förderlich. Ich atmete tief ein, langsam wieder aus und betrat die Bühne.

Im Vortrag erklärte ich, wie Kaskadenhacking funkioniert. Man nehme einen Exploit, wende ihn gegen einen anderen Geheimdienst oder andere kriminelle Organisation an, stehle alle von deren Daten inklusive weiteren Exploits und wende diese wiederum an weiteren Organisationen an. In einer Zeit des “offenssiven Cyberwarfares” hatte jeder irgendwie irgendwelche Lücken, die er ausnutzen wollte. Nur mein Ziel war rücksichtsloser und nicht auf Geheimnis gedacht.

Bei den Mächtigen der Welt kam indes Bewegung auf. Hubschrauber starteten. Die Mächtigen hatten zweifelsohne mittlerweile meine Identität aufgezeichnet. Dürrer Schwächling im schwarzen Kapuzenpulli, mit kurzen, braunen Haaren, die seit langem nicht mehr gewaschen wurden. Dazu noch eine markante Knubbelnase. Ich hatte noch 7 Minuten.

Ich brach meine Ausführungen über die Exploits ab und fing mit einer Erklärung der Selbstverteidigung an. TOR. Identitätsdiebstahl von Vorgesetzten. Keine Prahlereien. Anonymes melden der Sicherheitslücken an die Verantwortlichen. Noch 4 Minuten.

“Um meine letzte Verteidigungsmethode zu demonstrieren, werde ich ein wenig Zuschauerbeteiligung brauchen. Ja, das ist doof, weiß ich. Steht mal alle auf und lauft quer durch die Gegend. Also, nicht so, dass man jemanden anrempeln würde, sondern einfach nur kreuz und quer, als wäre man in einer Fußgängerzone ohne Ziel. Wo ihr schon dabei seid, nehmt jeglichen Müll mit, den ihr finden könnt.”

Ich stellte einen kunterbunten Countdown mit Musik an und dunkelte die Bühne ab. Ich musste das Mikro abschalten und so schnell wie möglich untertauchen. Noch 3 Minuten.

Ich sprang in die Menge. Noch konnte ich nichts machen, noch wussten die Leute hinter mir, wer ich war. Doch ich bewegte mich schnell durch die Menschenmassen. Noch 2 Minuten.

Ich bückte mich, um eine Flasche aufzuheben. In der gleichen Bewegung nahm ich meine Perücke und Nase ab. Die Nase stopfte ich in die Flasche, dort würde sie niemand suchen, bis es zu spät ist. Doch wo hin mit der Perücke? Ich lief zu einem der Mitarbeiter, der gerade den Raum verlassen wollte, und fragte ihn, ob er nicht die Perücke zum Fundbüro bringen könne. Klar könne er das, meinte er. Der Countdown war abgelaufen, auf der Leinwand stand nun “Und denkt dran: Ihr habt nichts gesehen”. Doch es kam niemand. Das Licht ging wieder an.

Mir wurde heiß. Irgendwas an meinem Plan schien schiefzulaufen, und ich hatte keine Kontrolle mehr über das Geschehen. Hatte man meine Verkleidung doch durchschaut? Wollte man gar nicht den Saal stürmen?

“Hey du!”, rief jemand. Ich zuckte zusammen. “Du siehst gar nicht gut aus.”
“Ich… was? Ach so, ja, mir ist etwas warm.” Ich hatte komplett vergessen, dass ich den Pulli noch ausziehen und umkrempeln wollte.
“‘Etwas warm’ ist normalerweise nicht aschfahl im Gesicht. Komm mal mit in den Erste-Hilfe-Raum.”
“Aber… ich…” Meine Kehle war wie zugeschnürt.
“Ja, genau. Komm, hier”, sagte sie und legte meinen schlaffen Arm über ihre Schulter.

Der Saal hatte tatsächlich nicht gestürmt werden sollen. Man hatte einfach die Gänge, die ins Freie führten versperrt.

“Kann ich mal durch, kann ich mal durch, medizinischer Notfall”, rief meine Begleiterin. Die Menge vor dem Checkpoint teilte sich, wir standen nun direkt vor den Beamten.
“Name und Ausweis bitte.”
“Welchen Teil von medizinischer Notfall verstehst du nicht?”
“Das ist ein Befehl von…”, fing der Beamte an.
“Ach komm”, unterbrach ihn sein Kollege, “die beiden sind doch eindeutig nicht unser Ziel.”
“Wir haben den Befehl”, fing der Beamte schon wieder an, doch den Rest hörte ich schon nicht mehr.

Als ich wieder aufwachte, war ich in einem kleinen Raum mit Betonwänden auf einer Pritsche. Im Gefängnis also. “Hey, du bist wieder wach!”, sagte jemand. Es war meine Begleiterin. “Du bist gerade im Erste-Hilfe-Raum. Hast du irgendwelche Vorerkrankungen oder Medikamente, von denen ich wissen sollte?”
“Nein. Nein, das war grade nur der Stress, glaub ich.”
“Was hat dich denn so gestresst?”
“Na, die Polizei und das alles.”
“Die hattest du erst gesehen, nachdem ich dich rausgeschleppt hatte.”
“Ach, ich weiß es doch auch nicht.”
“Ich denke, es hatte was mit deinem Vortrag zu tun.”
“Ja, das war es wahrschei… moment. Ich hab doch gar keinen Vortrag gehalten.”
“Aber natürlich hast du das getan, danach hattest du mir diese Perücke gegeben.”
“Fuck.” Ich versuchte zur Tür zu rennen, aber meine Beine gaben unter mir nach. Die Krankenschwester fing mich.
“Aber nicht doch, Kleine. Wir sind hier alle auf deiner Seite. Deine Verkleidung war klasse. Sag mir einfach nicht, wie du heißt, nimm deine Perücke mit und verbrenne sie. Niemand wird ein so hübsches Mädel wie dich mit dem öligen Hacker verwechseln.”