Der Tyrann und das Mädchen

Der Tyrann hatte vieles versprochen. Wohlstand und Sicherheit für alle. Die Kinder des Kinderheims hatten davon nicht viel mitbekommen. Bis eines Tages der Tyrann die große Säuberung begann und seine Schergen anwies, alle Einrichtungen der Religion zu zerstören. Das Kinderheim war eine Einrichtung der Religion. Das Mädchen verlor die meisten ihrer Freunde, vielleicht erlebte es auch schlimmeres. Das Mädchen redete selten über diesen Tag.

Ein paar gute Menschen nahmen die übrig gebliebenen Kinder bei sich auf. Sie hatten weder Geld, Zeit noch Platz, um den Kindern ein gutes zu Hause zu bieten. Die Kinder spielten deshalb meist auf dem Dachboden des Mehrfamilienhauses, oder auf dem Dach selbst. Manchmal fiel ein Kind herunter. Dann kam ein Krankenwagen und holte das Kind ab. Zurück kam niemand.

Eines Tages trommelte die neue Mama ihre Kinder zusammen und wollte mit ihnen in den Freizeitpark gehen. Die neue Mama hatte eigentlich nicht das Geld dafür. Doch sie wollte den Kindern den Anblick des Tyrannen, der am Nachmittag auf dem alten Marktplatz vor dem Haus eine Rede halten sollte, ersparen. Das Mädchen hörte diesen Aufruf nicht, sie war die letzte beim Versteckspiel und fiel nicht auf den alten „Mama hat gesagt, du sollst raus kommen“-Trick herein.

Nach einigen Stunden – vielleicht waren es auch nur 15 Minuten – wurde dem Mädchen langweilig und es begann, aus seinem Versteck herauszukriechen. Gerade, als sie das tat, kamen schwere Schritte die Treppe hinauf. Das Mädchen krabbelte schnell zurück, doch erreichte nicht mehr die Kiste, in der sie gelegen hatte. Und die dunkle Ecke, in der sie war, schützte sie nicht vor der Taschenlampe des Polizisten. Das Mädchen quiekte, der Polizist zückte die Pistole.

„Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Kleine.“
„Du mir auch.“
„Ich muss rauf aufs Dach, kannst du zu deinen Eltern zurückgehen?“

Als der Polizist seinen Sniper-Posten auf dem Dach bezogen hatte, hörte er die Fußpatscher des Mädchens.

„Warum bist du wieder hoch gekommen?“
„Meine Eltern sind nicht da und meine Freunde auch nicht. Kann ich hier bleiben?“
„Na gut. Aber bleib hinter dem First, ich muss den Platz bewachen.“
„Warum?“

Die Menge auf dem Platz jubelte. Der Tyrann betrat die Bühne.

„Kennst du den Mann da?“, fragte der Polizist.
„Ja, er hat die große Säuberung gemacht. Sollst du ihn erschießen?“
„Haha, nein. Ich soll verhindern, dass heute jemand erschossen wird.“
„Und wie verhinderst du das?“
„Naja, ich… ääähm…“ Dass er den Täter erschießen würde, um zu verhindern, dass sein Chef erschossen wurde, machte irgendwie keinen Sinn zu erklären.
„Ist ja auch egal. Viel Spaß beim Bewachen vom Platz, ich guck mal, ob es den Ratten gut geht.“
„Du hast Ratten als Haustiere? Das ist ja interessant.“
„Nein, hab ich nicht,“ sagte das Mädchen und hopste hinunter auf dem Dachboden.

In dem Gerümpel auf dem Dachboden konnte man durchaus interessante Sachen finden. Zum Beispiel ein Metallrohr mit Griff, das man hinten drehen konnte und dann verwenden konnte, um auf die Ratten zu schießen. Das Mädchen wollte aber keine Ratten schießen, sondern Tyrannen.

Der Polizist auf dem Dach lag am First und betrachtete einen Tumult in der Menge. Jemand hatte sich ausgezogen und holte aus, um irgendetwas nach dem Tyrannen zu werfen. Der Polizist entsicherte seine Waffe, doch ein Sniper von einem anderen Dach war schneller. Der Polizist kicherte und drehte sich zum Mädchen um.

„Lassen Sie sich das besser noch mal durch den Kopf gehen“, rief der Tyrann dem nun leblosen Angreifer in der Menge zu. Die Menge grölte, und niemand hörte den Schuss der alten Spionswaffe auf dem Dach. Der Polizist lag noch in genau der gleichen Haltung wie vorher, doch sein Gewehr war nun in den Händen des Mädchens. Das Mädchen plante die weitere Vorgehensweise: Pistolen tauschen, Gewehr abfeuern, Pistole verstecken, sich selbst verstecken. Teil eins war einfach.

Das Gesicht des Tyrannen verzog sich zu einer hässlichen Grimasse. So sah er immer aus, wenn er über die Religion des Mädchen redete. Oder überhaupt über irgendwas, was mit dem Mädchen in Verbindung stand.
Das Mädchen glaubte nicht mehr an irgendwelche übergeordnete Kräfte. Sie war jetzt ihre eigene Kraft, und der Tyrann in ihrem Fadenkreuz.

Der Schuss fiel und fiel und fiel, das starke Echo erschwerte die Ortung der Quelle. Das Mädchen hopste auf den Dachboden hinunter und versteckte die neue Pistole wieder zwischen den alten Rohrverbindungen und dann sich selbst in der Kiste. Ein Trupp schwerer Schritte lief die Treppe hinauf und stoppte auf dem Dachboden. Nur um dann weiter aufs Dach zu laufen. Der Fall war klar: Der Polizist war eigentlich ein feiger Attentäter, der sich mit einer alten Spionswaffe des Feindes das Leben nahm, um der Gerechtigkeit zu entgehen.

Die Truppe ging wieder die Treppe hinunter, bis auf einen, der den Tatort bewachen sollte. Einige Stunden später – oder waren es 15 Minuten? – kamen Kinder die Treppe hoch. Bevor der Wächter sie zurückweisen konnte, sah er eine Bewegung im Augenwinkel und erschoss das Mädchen, das aus der Kiste krabbelte.